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Buenos Aires ist ein großes immer neu durchlebtes Tier, voller Leben und Kraft aber auch voller Wunden und Kratzer. Die Stadt riecht nach Abgase und nach frisch gebackenem Brot; wie beim Schweiß eines geliebten Menschen, könnte man unmöglich von Gestank sprechen. Ich war nicht sofort ganz "angekommen" und habe deswegen ganz deutlich gespürt, wie diese Stadt mich gefangen nahm. Ich bin ihr und ihren Menschen erlegen und es ist wundervoll.

Der erste Tag war einfach halluzinatorisch. Hector, der Taxifahrer, der mich vom Flughafen brachte, war ein Porteño, wie man sich ihn nur klischeehaft vorstellen kann. Er hatte schon 2 Stunden auf mich gewartet, weil der Flug mit Verspätung kam (Übrigens, Maria Kodama, die letzte Frau Borges', war anläßlich der Buchmesse im selben Flug wie ich nach Buenos Aires gekommen -!!!!-). Als er und ich uns endlich mal gefunden hatten, nahm er freundlich mein Gepäck und nach ein paar Höfflichkeitsfloskeln erklärte er mir, er sei 'hincha' (Fan) von Boca Juniors, die berühmte Fußballmannschaft mit der sich die gesamte Arbeiterklasse des Landes identifiziert, während River Play, immer schon die Mannschaft der gehobenen Schichten gewesen ist. Er berichtete mir fast ehrfürchtig , die Woche darauf werde es ein clásico Boca-River geben, weswegen er nicht mehr ruhig schlafen könne. Ich habe mich sehr über die Nachricht gefreut ( ein Boca-River clásico en la Bombonera !!!) und werde morgen versuchen Karten zu bekommen. Ich muss nur zusehen, dass ich viel Geduld, Wasser, fiambre (Essen für Unterwegs) und ein Buch mitnehme, denn die Schlange wird bestimmt riesig lang sein. Auch, wenn ich kein Fußball-Fan bin, ein solches Ereignis in Buenos Aires beizuwohnen ist, wie zu einer Wagner-Aufführung in Bayreuth zu gehen, mit Wagner selbst in der Regie.

In der Pension angekommen bin ich sogleich Spazieren gegangen. Ich lief einfach die Chacabuco entlang (die Strasse, an der die Pension liegt). Dieser erster Blick auf der Stadt war wie ein Rauschmittel. Ich war körperlich ausgezerrt und irgendwie melancholisch. Ich ging auf der Strasse mit dem Gefühl viel zu oft fehl am Platze gewesen zu sein und plötzlich die Farben, die Gerüche und diese Form vom lebendiger Unordnung ließen angesichts dieser Unmittelbarkeit jeden Warum-Gedanken nichtig und vergeblich erscheinen. Ich lief und man müßte mir angesehen haben, dass ich eigentlich schwebend fortschritt. Man erzählt sich die Geschichte des Kindes, das dem Vater beim Anblick des Meeres um Hilfe bat, so viel könne es nicht auf einmal erfassen (papito, papito, ayúdame a mirar). Mir auch reichten die Augen, die Ohren, die Hände nicht.

Da war ein Wagen ironischerweise vor einer Autowerkstatt auf der Strasse liegengelassen. Als sei er aus Eis oder aus Plastilin, schmolz er von unten nach oben. Die Reifen und die unteren Metallpartien waren nicht mehr auseinander zu unterscheiden. Dieses Auto war einfach auf der Strasse liegen- und wahrscheinlich solange dagelassen, bis der deskompositorische Prozeß abgeschlossen werde, oder aber jemand Verwendung für die vergammelten Teilen finden sollte.

Ein beißendes Klirren lenkt mein Blick ab und ich sehe jemand mitten auf dem Gehweg auf einem Fahrrad sitzend. Der Mann schleift auf einem umgebauten Rad Messer und zummt dabei selbstverloren ein Liedchen.

Auf einer engen Strasse mit einigen mehr mehr als weniger heruntergekommenen Hotels sehe ich das folgende Schild: SE ALQUILAN HABITACIONES AMPLIAS Y BARATAS PARA FAMILIAS Y CABALLEROS. (Grosse und günstige Zimmer zu vermieten für Familien und Herren); und auch das folgende Schild ließ mich etwas erstaunen: TELÉFONO SEMIPÚBLICO. (Halböffentliches Telefon)

Ich laufe weiter und finde eine großartige Buchhandlung mit einem Café im Keller. Später erfuhr ich, es handelte sich um die älteste Buchhandlung Buenos Aires', gegründet 1785, vier Jahre vor der Französsischen Revolution. Ich sehe Bücher, die sogar in Deutschland schwer zu bekommen wären und werde ausgesprochen nervös.

Ich laufe weiter und ein häßliches Hochhaus aus den Siebzigern folgt einer wundervollen Villa aus den Zwanzigern und diese wiederum einem alten Wohnhaus mit mehreren Innenhöfen; danach eine kleine Werkstatt, in irgendeiner Garage ein schnell eingerichtetes sogenanntes 'Locutorio' (Internetcafé; es gibt eins in fast jede 'Cuadra'). Danach kommt eine Wäscherei und Waschsalon (alles in einem), danach ein kleines Gemüseladen - meistens von Peruaner oder Balivianer betrieben -, dann natürlich eine jener Bäckereien, wo man die leckeren und dickmachenden, aus tierischem Fett, weil billiger hergestellten 'Facturas' (Teigsüßware) ergattern kann. Diese kleine Perversionen des argentinischen Gaumens schmecken sündhaft gut, vor allem Morgens nach der Milonga mit müden Füssen und beschwingtem Herzen.

Mein Spaziergang dauert immer noch. Ich gehe die Straßen missionarisch weiter, trotz der vielen Colectivos (kleine Busse) und der nicht gerade sauberen Luft, und auch trotzt der langsam müde werdenden Füße. Irgendwo auf der Avenida de Mayo finde ich einen großen Billiardsalon, mit einem kleinen Bistro in Separé. Ein Kellner, unendlich höfflich und mit makellosem Hemd und Fliege, bedient mich. Um mich herum sitzen Menschen, die lesen oder sich unterhalten; ich fühl mich sehr wohl und auch mit etwas Appetit. Eine Gruppe älterer Herren kuck in meiner Richtung interessiert. Ich lächele zurück und werde von ihnen gefragt, ob ich ein Glas Sekt entgegen nehmen würde. Ich bin etwas verunsichert, aber dadurch, dass wahrscheinlich keiner jünger als meinen Urgroßvater zu sein scheint, nehme ich das Geschenk an. Die andere Seite, des durchaus vorhandenen Machismus der argentinischen Männer ist, daß sie sehr höfflich und charmant sein können. Der Weg zurück zur Pension ist nicht minder aufregend und ergreifend...

Aber besonders etwas möchte ich noch anmerken. Auf der Avenida 9 de Julio gehe ich in einer Bank rein. Ich will den Geldkurs erfahren. Der Eingang ganz in Marmor, mit Säulen und einem riesigen eisernen Tor hat mich sehr beeindruckt. Als ich aber rein kam, wurde mir überdeutlich vor den Augen geführt, was mit diesem Land passiert ist. Dieser prachtvolle Eingang barg nämlich nichts, als eine prachtvoll leere Halle, in der es drei mickrigen Kassen, bedient von vier von Langsamkeit und Antriebslosigkeit gezeichneten Angestellten und eine laaange, laange Schlange von Menschen gab. Ich verzichtete auf die erwünschte Information und ging.

In der Pension wohnen auch noch ein Deutscher, der schon seit einigen Monaten hier ist, zwei Italienerinnen, von denen die eine Tangolehrerin in Rom ist und ein Inder, der in San Francisco lebt. Die Italienerinnen und der Inder waren schon mehrmals hier gewesen und kannten sich bestens aus. Vor allem kannten sie viele Menschen und dadurch, dass ich mit Ihnen die ersten Tagen viel Unterwegs gewesen war, habe ich einen guten Anschluss bekommen. An dem Dienstag meiner Ankunft sind wir auch tanzen gegangen. Wir waren mit einem alten Milonguero und einem Lehrerpaar aus Frankreich unterwegs. Es war ein wundervoller Abend. Ich hatte neue Schuhe an, mit Ledersohle, war übermüdet, fast fiebrig und hatte soooo viele Eindrücke überhaupt nicht verdaut... Es war der Beste Ausgangspunkt, um in meiner ersten Milonga in Buenos Aires zu gehen: wenn etwas völlig schief gegangen haben sollte, hätte ich viele gute Gründe gehabt. Und erstaunlicherweise ist nichts schlimmes passiert. Ich bin nicht auf die Schnauze gefallen, bin auch nicht sitzen gelassen worden und bin auch mehrmals von den selben Männern aufgefordert worden. Soviel Gutes ist vom folgeneden Milonga-Abend in La Nacional - eine Milonga, die ich schrecklich fand - nicht zu verzeichnen, aber diese ist wahrlich eine andere Geschichte und jetzt ist Zeit sich zu verabschieden.
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